Ein gerechtes Wirtschaftssystem beginnt mit der Frage, wie wir gemeinsam satt werden

Beginnen wir mit einem kleinen Bewohner des Pazifiks: Die peruanische Sardelle, ein bescheidener Fisch von nur 20 Zentimetern Länge, der vor Perus Küste sein Zuhause hat. Trotz ihrer geringen Größe trägt sie einen bedeutenden Namen in der Welt der Fischerei. Jährlich werden erstaunliche acht Millionen Tonnen dieser winzigen Meeresbewohner aus dem Wasser geholt – mehr als von jeder anderen Fischart weltweit. Man könnte sich vorstellen, dass Peru ein Paradies für Sardellenliebhaber sein müsste, mit einer Vielfalt an Köstlichkeiten, die diesen besonderen Fisch feiern.
95 Prozent dieser Fische landen nicht auf peruanischen Tellern, sondern in Fabriken. Dort werden sie zu Fischmehl verarbeitet, das dann nach China oder Europa exportiert wird – als Futter für Zuchtlachs, Hühner oder Schweine. Und währenddessen leidet die Hälfte der peruanischen Bevölkerung unter Mangelernährung.
Das ist kein Zufall. Es ist ein Symptom eines globalen Ernährungssystems, das vor allem eines tut: wirtschaftlichen Interessen dienen. Nicht der Gesundheit. Nicht der Gerechtigkeit. Nicht dem Klima.
Wenn Ernährung paradox wird
José Luis Chicoma, einst Produktionsminister von Peru, heute Fellow am THE NEW INSTITUTE in Hamburg, nennt das einen Systemfehler. Er fragt sich, warum ein Land mit einer so reichen landwirtschaftlichen Basis mit Hunger kämpft. Und warum wir weltweit so viel falsch machen, wenn es ums Essen geht.
Denn das Problem ist nicht nur peruanisch. Es ist global.
Weltweit konzentriert sich unsere Landwirtschaft auf nur drei Getreidesorten: Mais, Reis und Weizen. Obwohl es rund 6000 essbare Nutzpflanzen gibt, stammen fast die Hälfte unserer Kalorien aus diesem Trio. Das ist effizient, aber riskant – für die Biodiversität, die Ernährungssicherheit und das Klima.
Gleichzeitig wird ein Drittel aller produzierten Lebensmittel weggeworfen. Und das, was bleibt, wird oft zu hochverarbeiteten Produkten gemacht – voll mit Zucker, Fett und leeren Kalorien. So entstehen Übergewicht, Herzkrankheiten und Diabetes. Und das paradoxerweise auf denselben Kontinenten, auf denen Menschen gleichzeitig an Hunger leiden.
Das System isst mit
Diese Widersprüche zeigen: Das Ernährungssystem ist tief verstrickt in ein wirtschaftliches Modell, das Wachstum über alles stellt. Produziert wird nicht, was sinnvoll ist, sondern was sich rechnet. Und das oft zu Lasten derer, die eigentlich profitieren sollten.
Genau hier setzt Chicoma an. Als Minister wollte er nicht nur die Produktion steigern – was in seinem Ressort eigentlich oberste Priorität hatte –, sondern das System gerechter machen. Er stärkte traditionelle Lebensmittelmärkte, in denen lokale Produkte angeboten werden, die es im Supermarktregal nie schaffen würden. In Peru gibt es über 3000 Kartoffelsorten – doch in den großen Ketten findet man meist nur zwei oder drei. Vielfalt hat im globalen Markt wenig Platz.
Ein Minister gegen den Strom
Chicoma sieht in den Märkten nicht nur Orte des Handels, sondern Orte der Kultur, der Biodiversität, der Ernährungssouveränität. Deshalb versuchte er, ihnen politische Sichtbarkeit zu geben – mit Budget, Unterstützung und einer klaren Botschaft: Zukunft braucht Herkunft.
Doch seine Zeit als Minister war begrenzt. Es war eine Übergangsregierung, neun Monate später war er wieder draußen. Was blieb, war die Erkenntnis, dass es an einer Art Anleitung fehlte. Eine durchdachte Strategie. Eine Sammlung bewährter Ideen. Ein Plan für Veränderung.
Oder, wie Chicoma es nennt: ein Playbook.
Ursprünglich stammt der Begriff aus dem Sport – vor allem aus dem American Football. Ein Playbook ist dort eine Art Handbuch mit Spielzügen und Taktiken für verschiedene Spielsituationen. Übertragen auf Politik und Gesellschaft heißt das: Ein Playbook ist ein Werkzeugkasten. Es enthält erprobte Strategien, Empfehlungen, Handlungsoptionen, die helfen sollen, konkrete Herausforderungen zu lösen – angepasst an unterschiedliche Kontexte.
Ein Playbook ist kein starres Regelwerk, sondern eine Art kreative Vorlage für Veränderung. Es bietet Orientierung, aber lässt Raum für Flexibilität. Genau das fehlte Chicoma in seiner Amtszeit. Und genau das will er jetzt schaffen.
Vielfalt statt Einheitsbrei
Dieses Playbook entwickelt Chicoma nun gemeinsam mit einem internationalen Team am THE NEW INSTITUTE. Im Programm „Future of Food“ kommen Agrarwissenschaftlerinnen, Soziologen, Aktivistinnen und politische Strategen zusammen, um ein gerechteres System zu entwerfen. Nicht am Reißbrett, sondern praxisnah und realistisch. Mit Blick auf das, was schon funktioniert – in Dänemark, wo Schulkantinen komplett auf Bio-Produkte umgestellt wurden. In Amsterdam, wo eine klimaneutrale Ernährungspolitik angestrebt wird. Oder in Kigali, wo Stadt und Land durch neue Lebensmittelnetzwerke verbunden werden.
Ihr Ziel ist ein Ernährungssystem, das lokal verankert ist, global denkt und sozial gerecht handelt. Eines, das Vielfalt schützt, kleine Erzeugerinnen stärkt und Menschen nicht nur satt macht, sondern gesund hält.
Ein Playbook für den Wandel
Im Zentrum des Projekts steht der Gedanke, Wissen zu teilen und übertragbar zu machen. Wie kann ein Land Fischereireformen durchsetzen? Wie lassen sich lokale Märkte politisch absichern? Wie kann man Ernährungspolitik als Querschnittsaufgabe in alle Ministerien holen – von Gesundheit bis Umwelt?
Das Future-of-Food-Team will mit seinem Playbook keine Blaupause vorlegen, sondern einen Werkzeugkasten. Ideen, die anpassbar sind. Strategien, die über Landesgrenzen hinweg funktionieren. Und vor allem: Perspektiven, die eine neue Sicht auf Nahrung ermöglichen.
Kapitalismus mit Geschmack
Doch es geht um mehr als Essen. Es geht um Kapitalismus. Um die Frage, was wir unter Fortschritt verstehen. Ob wirtschaftlicher Erfolg nur in Tonnen, Margen und Skalierung gemessen werden darf – oder auch in Gesundheit, Zufriedenheit und ökologischer Tragfähigkeit.
Unser Wirtschaftssystem neu zu denken heißt nicht, den Kapitalismus einfach abzuschaffen. Es heißt, uns neue Ziele und neue Begriffe zu geben. Und vielleicht beginnt das genau dort, wo man es am wenigsten erwartet hätte: auf einem Markt, zwischen violetten Kartoffeln, duftenden Kräutern und einer Sardelle, die nicht exportiert wird, sondern einfach gegessen.
Essen kann politisch sein. Es kann Protest sein. Oder Anfang einer neuen Erzählung. Und vielleicht ist genau das der erste Schritt in ein Wirtschaftssystem, das mehr kann als wachsen: Es kann nähren.