Der verkannte Tatort

Es sind nicht Messer oder Kugeln, die unser Leben kürzen – es sind die kleinen Gewohnheiten
Thomas Schmenger

Gefahr kündigt sich selten mit Sirenen an. Sie versteckt sich im Vertrauten: im Wohnzimmer, auf dem Fahrersitz, in der Routine. Während wir dunkle Parks meiden, unterschätzen wir die wahre Bedrohung: die stillen, schleichenden Risiken, die leise das Leben kürzen. Der wahre Tatort liegt nicht draußen. Er liegt mitten in unserem Alltag.

Die Angst, die uns nachts den Umweg nehmen lässt, irrt. Die Mordrate in Deutschland ist seit 1970 deutlich gefallen. Heute liegt die Wahrscheinlichkeit, einem Tötungsdelikt zum Opfer zu fallen, bei etwa eins zu 1.500. Und die Täter sind selten Fremde – meist stammen sie aus dem persönlichen Umfeld. (Quelle: Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2023)

Weitaus realer ist die stille Gefahr auf den Straßen. Auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, zum Einkauf lauert das größere Risiko. Rund 3.000 Menschen sterben jährlich im Straßenverkehr. Das Lebenszeitrisiko: eins zu 370. (Quelle: Statistisches Bundesamt, Verkehrsunfallstatistik 2023) Dank technischer Innovationen und besserer Rettungssysteme sinkt die Zahl der Verkehrstoten seit Jahren. Die Tendenz ist fallend.

Auch die eigenen vier Wände bergen tückische Fallen. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, ein Sturz auf der Treppe – oft endet er tödlich. Das Risiko, bei einem Haushalts- oder Freizeitunfall zu sterben, liegt bei eins zu 110. Besonders ältere Menschen sind betroffen. (Quelle: Statistisches Bundesamt, Unfallstatistik im Haushalt 2022) Mit dem Alter wächst die Sturzgefahr – und das Risiko. Die Tendenz ist steigend.

Unser größter Irrtum ist es, zu meinen, dass das, was wir am meisten fürchten, uns auch am meisten bedroht
Michel de Montaigne, Essais (1580)r

Während draußen der Park als gefährlich gilt, trinken drinnen viele zu sorglos. Alkohol begleitet unseren Alltag leise und höflich. Doch etwa jede siebte erwachsene Person trinkt riskant. 74.000 Todesfälle jährlich sind die Folge. (Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Jahrbuch Sucht 2023) Der gesellschaftliche Umgang wird kritischer, die riskanten Muster nehmen ab. Die Tendenz ist fallend.

Ebenso ist die Zigarette längst nicht verschwunden. Die Zigarette hat an Glanz verloren, nicht aber an Gefährlichkeit. Etwa 127.000 Menschen sterben jedes Jahr durch Tabakkonsum. (Quelle: Deutsches Krebsforschungszentrum, Tabakatlas Deutschland 2023) Die Zahl der Raucher sinkt kontinuierlich – eine stille Erfolgsgeschichte im Schatten der anderen Krisen. Die Tendenz ist fallend.

Noch unsichtbarer als Alkohol und Tabak wirkt Bewegungsmangel. Er schreit nicht, er schleicht. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung erreicht nicht die empfohlene Aktivitätszeit. (Quelle: Robert Koch-Institut, GEDA-Studie 2019/2020) Die Folgen – Herzkrankheiten, Diabetes, Krebs – wachsen langsam, aber sicher. Die Tendenz ist weitgehend stabil.

Gleichzeitig wächst eine stille Epidemie heran: Adipositas. Sie rollt nicht als Sturmwelle heran, sondern schleicht über Jahre. Heute ist etwa jede fünfte erwachsene Person in Deutschland betroffen. (Quelle: Robert Koch-Institut, Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland 2023) Mit jedem zusätzlichen Kilo steigen die Risiken. Fehlernährung und Bewegungsarmut sind die leisen Motoren dieser Entwicklung. Die Tendenz ist steigend.

Der wahre Tatort schließlich ist nicht draußen in der Dunkelheit. Er liegt im Gewohnten, im achselzuckenden Verzicht, im bequemen Verdrängen. Nicht Messer oder Pistolen verkürzen unsere Lebenserwartung am häufigsten – sondern das, was wir zu lange dulden: das Glas zu viel, die Zigarette zu oft, den Gang zu selten. Vielleicht beginnt echte Vorsicht nicht damit, den Fremden im Park zu fürchten, sondern damit, sich selbst ins Auge zu sehen – und die eigenen Gewohnheiten nicht länger zu entschuldigen.


Quellen

  • Bundeskriminalamt (BKA): Polizeiliche Kriminalstatistik 2023
  • Statistisches Bundesamt (Destatis): Verkehrsunfallstatistik 2023
  • Statistisches Bundesamt (Destatis): Unfallstatistik im Haushalt 2022
  • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen: Jahrbuch Sucht 2023
  • Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ): Tabakatlas Deutschland 2023
  • Robert Koch-Institut (RKI): GEDA-Studie 2019/2020, Gesundheitsberichterstattung 2023

Methode der Texterstellung

Der Text basiert auf einer Auswertung der aktuellsten amtlichen Statistiken und wissenschaftlichen Studien zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland.

Für die Berechnung der Lebenszeitrisiken wurde folgende einfache Methode verwendet: Die jährliche Anzahl der Todesfälle einer Kategorie wurde durch die Gesamtbevölkerung geteilt, auf eine Rate je 100.000 Einwohner umgerechnet und auf die durchschnittliche Lebenserwartung von 81 Jahren hochskaliert.

Die Einordnung der Trends (fallend, steigend, stabil) erfolgte durch den Vergleich historischer Datenreihen aus den Jahren 2000 bis 2023.