Kann weniger Kälte wirklich die wachsende Hitzebelastung ausgleichen?
Hitze und Kälte sind anerkannte Gesundheitsrisikofaktoren mit erheblichem Einfluss auf die Sterblichkeit in Europa. Schätzungen zufolge gibt es etwa zehn kältebedingte Todesfälle auf einen hitzebedingten Todesfall. Einige Studien legen nahe, dass sich die temperaturbedingte Sterblichkeit in Europa durch den Klimawandel insgesamt verringern könnte. Allerdings variiert das Verhältnis von hitze- zu kältebedingter Sterblichkeit stark zwischen den Regionen und im Zeitverlauf.
Der Klimawandel hat bereits zu einem deutlichen Anstieg hitzebedingter Todesfälle im 21. Jahrhundert geführt. Verstärkte Urbanisierung und wachsende Bevölkerungen erhöhen zusätzlich die Belastung durch hohe Temperaturen. Daher stellt sich die Frage, ob eine Abnahme der Kältebelastung den Anstieg hitzebedingter Risiken ausgleichen kann.

Nettoeffekt des Klimawandels
Das Gleichgewicht zwischen zunehmender Hitze- und abnehmender Kälte-Sterblichkeit wird als Nettoeffekt des Klimawandels bezeichnet. Frühere Studien lieferten hierzu widersprüchliche Ergebnisse, abhängig von Standort und Szenario. Extreme Hitze und Kälte verändern sich zudem unterschiedlich schnell, was die Temperaturverteilung regional verengt oder verbreitert.
Die Temperatur-Sterblichkeits-Kurve ist komplex und meist U- oder J-förmig, wobei der Anstieg auf der Hitzeseite oft steiler ist. Vorliegende Analysen waren oft zu begrenzt oder zu grob, um repräsentative Ergebnisse für Europa zu liefern. Insbesondere Regionen wie die nordischen Länder, das Baltikum und der Balkan wurden bislang vernachlässigt. Die Studie von Masselot & Gasparrini et al. (2025) schafft hier Abhilfe.
Anpassungsfähigkeit der Bevölkerung
Die Anpassungsfähigkeit der europäischen Bevölkerung an den Klimawandel ist ein weiterer entscheidender Faktor. Studien zeigen eine deutliche Abschwächung des Hitzesterblichkeitsrisikos in den letzten Jahrzehnten. Dies wird unter anderem mit steigenden Durchschnittstemperaturen und der stärkeren Nutzung von Klimaanlagen erklärt.
Die Entwicklung bei kältebedingter Sterblichkeit ist dagegen weniger klar. Ansätze zur Modellierung von Anpassung unterscheiden sich erheblich und basieren auf begrenzten empirischen Daten. Anpassung an Hitze hängt auch von demografischen und sozioökonomischen Trends ab. Bevölkerungsalterung erhöht sowohl das Hitze- als auch das Kälterisiko, während verbesserte Gesundheitssysteme diese Risiken verringern könnten.
Methodische Herausforderungen
Die Projektion hitze- und kältebedingter Sterblichkeit ist aufgrund der Vielzahl von Einflussfaktoren schwierig. Sie erfordert Temperaturprognosen aus Klimamodellen und komplexe epidemiologische Analysen. Zudem müssen unterschiedliche sozioökonomische Entwicklungspfade berücksichtigt werden.
Um den spezifischen Einfluss des Klimawandels zu isolieren, ist eine differenzierte Methodik erforderlich. Nur so lässt sich die Unsicherheit aus Klimamodellen und epidemiologischen Daten angemessen einbeziehen. Ziel ist eine möglichst genaue Abschätzung der künftigen temperaturbedingten Sterblichkeit in Europa. Genau diesen Ansatz verfolgt die Studie von Masselot & Gasparrini et al. (Nature Medicine, 2025).
Studiendesign
Die Untersuchung betrachtet drei sozioökonomische Szenarien (SSP):
- SSP1-2.6: Ein nachhaltiges Europa mit gerechterer Verteilung und starker Klimaschutzpolitik.
- SSP2-4.5: Fortsetzung der heutigen Entwicklungen mit langsamer Anpassung.
- SSP3-7.0: Ein instabiles Europa mit wachsenden Ungleichheiten und fehlender Klimapolitik.
Für jedes Szenario wurde zunächst eine „Keine Anpassung“-Variante berechnet, bei der die Hitzebelastung nur vom Altersprofil abhängt. Danach wurden drei Anpassungsszenarien simuliert, in denen das Hitzesterblichkeitsrisiko um 10 %, 50 % oder 90 % reduziert wurde. Diese Risikoreduktion wurde durch Anpassung der temperaturbezogenen Sterblichkeitskurven modelliert. So ließ sich die Wirkung unterschiedlicher Anpassungsstrategien auf die Mortalität vergleichen.
Datengrundlagen und Modellierung
Die Studie basiert auf Daten zu 854 europäischen Städten mit jeweils mehr als 50.000 Einwohnern. Dabei wurden spezifische Temperatur-Sterblichkeits-Kurven für fünf Altersgruppen berücksichtigt. Die Analyse kombiniert Temperaturprojektionen mit demografischen Daten und Sterblichkeitsraten. Der Einfluss des Klimawandels wurde isoliert, indem Szenarien mit und ohne Temperaturveränderungen verglichen wurden. Die Temperaturdaten stammen aus 19 globalen Klimamodellen (GCMs) und wurden mit Bias-Korrekturen angepasst. Zusätzlich wurden Unsicherheiten der epidemiologischen Analysen durch 500 Monte-Carlo-Simulationen berücksichtigt. Die Methodik wurde in der Studie von Masselot & Gasparrini et al. (Nature Medicine, 2025) detailliert beschrieben.
Ergebnisse auf europäischer Ebene
Für alle drei SSP-Szenarien zeigt sich im „Keine Anpassung“-Szenario ein Anstieg der hitzebedingten Todesfälle.
- Unter SSP1-2.6 erreicht der Nettoanstieg im Jahr 2060 seinen Höhepunkt, bevor er leicht zurückgeht.
- SSP2-4.5 zeigt eine Plateauphase zwischen 2070 und 2100.
- Unter SSP3-7.0 hingegen steigt die temperaturbedingte Sterblichkeit kontinuierlich und erreicht sehr hohe Werte.
In diesem Szenario sind alle Altersgruppen betroffen, während bei SSP1-2.6 und SSP2-4.5 die jüngeren Gruppen kaum betroffen sind. Die Ergebnisse verdeutlichen den starken Einfluss von Anpassung und Klimapolitik. Ohne Anpassung könnte der Klimawandel die temperaturbedingte Sterblichkeit in Europa massiv erhöhen – wie die Studie von Masselot & Gasparrini et al. (2025) klar zeigt.
