Musik als Medizin

Der Neurowissenschaftler und Musiker Daniel J. Levitin beleuchtet in seinem Buch „I Heard There Was a Secret Chord: Music as Medicin” die faszinierende Idee, dass Musik als eine Art medizinisches Mittel in diplomatischen und zwischenmenschlichen Beziehungen fungieren kann. Ausgehend von einem historischen Beispiel – dem Wiener Kongress von 1814, bei dem Beethovens Musik möglicherweise zur erfolgreichen Friedensstiftung beitrug – reflektiert Levitin über die potenzielle Kraft der Musik, um Spannungen und Misstrauen zu durchbrechen.

Levitins neurowissenschaftliche Forschung zeigt, dass gemeinsames Musizieren oder auch nur das gemeinsame Hören von Musik erstaunliche Effekte auf die Empathie zwischen Menschen hat. In Laborversuchen stellten Levitin und sein Team fest, dass Fremde, die gemeinsam Musik spielen, ein Empathielevel erreichen, das normalerweise bei engen Freunden nach jahrelanger Beziehung zu finden ist. Selbst das bloße Hören desselben Musikstücks synchronisiert die neuronalen Reaktionen in den Gehirnen der Zuhörer.

Seine Überzeugung ist, dass Musik, durch die Freisetzung von Oxytocin, Vertrauen schaffen und Verhandlungen produktiver gestalten kann. Musik könnte somit ein Mittel sein, um die tiefen gesellschaftlichen und politischen Spaltungen unserer Zeit zu überbrücken, von innerstaatlichen Konflikten bis hin zu globalen Krisen.

Levitins Ausführungen werfen ein Licht auf die unerwartete und doch tiefgreifende Rolle der Musik in der Diplomatie und im sozialen Zusammenleben. In einer Welt, die von Konflikten und Spannungen geprägt ist, könnte Musik als verbindendes Element wirken und helfen, Differenzen zu überbrücken, um zu einem friedlicheren Miteinander zu gelangen.

Die Untersuchungen Levitins, die bereits die tiefgreifende Wirkung von Musik auf zwischenmenschliche Beziehungen und Diplomatie beleuchten, gewinnen durch einen weiteren künstlerischen Perspektivwechsels noch an Tiefe und Weite: Die Künste im Allgemeinen – sei es Literatur, Theater, bildende Kunst, Tanz oder Musik – besitzen eine einzigartige Kraft, die sich in anderen Formen menschlichen Ausdrucks nicht so leicht finden lässt. Während gesprochene Rede oft wörtlich und konkret ist, schöpfen die Künste aus der Welt der Metaphern und zielen auf emotionale Wahrheiten ab, die weit über das Wörtliche hinausgehen.

Kent Nagano, ein renommierter Dirigent und Freund Levitins, bringt es treffend auf den Punkt, wenn er feststellt, dass Fanatiker selten die Künste schätzen, da sie so sehr in ihren Überzeugungen verhaftet sind, dass ihnen die Vorstellungskraft für alternative Möglichkeiten fehlt. Die Kunst, mit ihren Metaphern und Symbolen, hat jedoch die einzigartige Fähigkeit, uns neue Gedanken und Perspektiven zu eröffnen, uns in die Lebenswelten anderer Menschen einzuführen, deren Erfahrungen weit von den eigenen entfernt sein mögen. So kann Kunst Empathie fördern, Vorurteile abbauen, Mitgefühl wecken und unser Interesse und unsere Neugier anstelle von Misstrauen kultivieren.

Es wird oft gesagt, dass man eine Person nicht von einer Position abbringen kann, die sie sich nicht selbst erarbeitet hat. Wenn eine Meinung auf emotionalen Grundlagen basiert, reichen Argumente, Fakten und Logik nicht aus, um diese Meinung zu ändern. Doch das richtige Kunstwerk kann das. Es öffnet das Herz und kann so einen „Sinneswandel“ herbeiführen – eine Transformation, die rationales Argumentieren allein selten bewirken kann.

Seit Zehntausenden von Jahren wird Musik genutzt, um Menschen auf diese Weise zu vereinen, Spannungen abzubauen und Rivalitäten zu entschärfen – sei es um uralte Lagerfeuer oder durch rituelle Gesänge. Verhandlungen gelten heutzutage oft als sterile, rationale Gespräche, die hinter verschlossenen Türen geführt werden. Vielleicht ist es an der Zeit, diese beiden Welten wieder zu vereinen. Die wissenschaftlichen Fortschritte der letzten Jahre haben sicherlich eine fundierte Basis dafür geschaffen, „Klangdiplomatie“ als ernstzunehmende Methode zu betrachten.

Der Musiker Levitin hat aus erster Hand erfahren, wie Musik Menschen zusammenbringt. Anders als bei einem Sportereignis, wo das Publikum oft gespalten ist, vereint ein Konzert die Zuhörer im gemeinsamen Wunsch, die Musiker erfolgreich sehen zu wollen. Er zitiert in seinem Buch den berühmten Bassisten Victor Wooten: „Ich mache mir keine Gedanken darüber, ob das Publikum mich liebt oder nicht – die, die mich nicht mögen, haben keine Karten gekauft!“

Während die Musik spielt, verschwinden die Unterschiede zwischen den Menschen – politische Ansichten, Herkunft oder soziale Schichten treten in den Hintergrund. In dem Moment, in dem die erste Note erklingt, sind alle im Raum durch das gemeinsame Streben vereint, Emotionen zu erleben, die Worte nicht ausdrücken können. Diese kollektive Erfahrung ist zugleich zutiefst persönlich – eine Doppelnatur, die das Geheimnis der Macht der Musik ausmacht.

Musik und Kunst im Allgemeinen besitzen das Potenzial, die Welt nicht nur zu spiegeln, sondern sie zu verändern – durch die Vereinigung von Herz und Verstand, von individuellem Erleben und kollektiver Erfahrung.