385 000 Chancen
Jeden Tag werden auf dieser Welt etwa
385.000 Kinder geboren.
385.000 neue Anfänge gemacht
385.000 Möglichkeiten für etwas völlig Unerwartetes.
Wirklich: Das würfelt alles neu. Auch wenn Einstein meinte, das Gott nicht würfelt.

Für Hannah Arendt, eine der einflussreichsten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, ist diese simple biologische Tatsache die Grundlage für etwas Revolutionäres – für menschliche Freiheit überhaupt.
Aber gehen wir einen Schritt zurück. Wer war Hannah Arendt? Eine deutsch-jüdische Philosophin, die vor den Nazis fliehen musste, die das Totalitarismus-Phänomen wie kaum jemand anders durchdachte – und die uns ein ungewöhnliches Geschenk hinterließ: das Konzept der Natalität.
Was ist Natalität?
Das Wort klingt sperrig, akademisch. Natalität – vom lateinischen natalis, zur Geburt gehörig. Aber lasse dich nicht täuschen. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine der hoffnungsvollsten Ideen der Menschheitsgeschichte.
Arendt schreibt in ihrem Hauptwerk Vita activa:
Der Neuanfang, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen.
Puh … diesen Satz bitte noch einmal.Kompliziert. Aber wichtig. … Denn er enthält eine radikale Behauptung: Wir Menschen sind nicht nur einfach dahingeboren – wir sind selbst ein Anfang.
Mehr als biologische Geburt
Natürlich meint Arendt nicht nur die physische Geburt. Das wäre zu billig. Natalität ist bei ihr ein existenzielles und politisches Prinzip. Es beschreibt unsere Fähigkeit, Neues in die Welt zu bringen – durch Handeln, durch Sprechen, durch unser bloßes Dasein.
Denke an Rosa Parks, die sich 1955 weigerte, als dunkelhäutige ihren Sitzplatz im Bus zu räumen. Ein einzelner Moment. Eine einzelne Person. Ein neuer Anfang, der eine ganze Bewegung auslöste. Das ist Natalität in Aktion.
Oder denke an die Menschen auf dem Tahrir-Platz 2011, an die Frauen der #MeToo-Bewegung, an Greta Thunberg mit ihrem einsamen Schulstreik fürs Klima. Überall dort, wo Menschen etwas Neues und unberechenbares wagen, wo sie das Alte unterbrechen, wo sie sagen „So nicht!” oder „Vielleicht doch anders!” – dort geschieht Natalität.
Und der Gegenspieler. Die Sterblichkeit?
Nun könnte man einwenden: „Aber die Philosophie hat doch auch immer brav über den Tod geredet!” Stimmt. Von Platon über Heidegger bis Sartre – die Sterblichkeit stand im Zentrum. Der Mensch als „Sein zum Tode”. Das Leben als Vorbereitung auf den Tod.
Arendt macht hier eine Kehrtwende. Nicht, dass sie den Tod leugnet. Aber sie fragt: Warum definieren wir uns nur über unser Ende statt über unseren Anfang? Warum über die Mortalität statt über die Natalität? Warum über unsere Erstarrung statt über unsere Lebendigkeit?
Diese Umkehrung ist mehr. Sie verändert unseren ganzen Blick auf das Menschsein. Wo die Sterblichkeit zu Resignation führen kann – „Alles ist sowieso vergänglich” –, öffnet die Natalität einen lebenslangen Raum der Möglichkeit: „Es kann und wird immer noch etwas Neues beginnen.”
Drei Dimensionen der Natalität
Lasst uns uns konkreter werden. Arendts Konzept der Natalität lässt sich in drei Dimensionen verstehen:
Erstens: Die existenzielle Dimension. Jeder Mensch ist einzigartig. Es gab nie zuvor jemanden genau wie dich und es wird nie wieder jemanden geben wie dein Frittenbudenmann, der dich immer nach Ketchup oder Majo fragt. Diese Singularität ist kein esoterischer Firlefanz, sondern eine Tatsache. Und sie bedeutet: Mit jedem Menschen kommt etwas potenziell Neues in die Welt.
Zweitens: Die politische Dimension. Durch Handeln und Sprechen bringen wir uns in die gemeinsame Welt ein. Wir beginnen Geschichten, die sich mit den Geschichten anderer verweben. Politik ist für Arendt genau das: Der Raum, in dem diese Neuanfänge geschehen können. Der öffentliche Raum, in dem wir nicht nur verwalten, was ist, sondern gestalten, was sein könnte.
Drittens: Die zeitliche Dimension. Natalität durchbricht die lineare Zeit. Sie schafft Diskontinuität. Während die Sterblichkeit uns an das unausweichliche Ende kettet, befreit uns die Natalität von der Tyrannei der Vergangenheit. „Es hätte auch anders kommen können” wird zu „Es kann noch anders werden.”
Das Wunder des Handelns
Arendt verwendet ein starkes Wort: Wunder. Sie schreibt, dass die Fähigkeit zu handeln „wie ein immerwährendes Wunder” ist. Warum? Weil Handeln unberechenbar ist. Weil wir, wenn wir wirklich handeln, Prozesse in Gang setzen, deren Ausgang wir nicht kontrollieren können.

Nehmen wir ein Beispiel: Ein Wissenschaftler veröffentlicht eine Theorie. Er denkt, sie wird in Fachkreisen diskutiert und dann vergessen. Stattdessen inspiriert sie eine Künstlerin zu einem Projekt, das wiederum einen Aktivisten bewegt, eine Kampagne zu starten, die schließlich zu einer Gesetzesänderung führt. Keiner der Beteiligten hätte diese Kette vorhersehen können.
Das ist das „Wunder” – und gleichzeitig das Risiko – des Handelns. Wir initiieren, aber wir kontrollieren nicht. Wir fangen an, aber wir können nicht bestimmen, wie es endet. Diese Unberechenbarkeit macht viele nervös. Arendt jedoch sieht darin die Essenz menschlicher Freiheit.
Natalität und Vergebung
Hier wird es interessant – und vielleicht überraschend. Wenn unsere Handlungen so unvorhersehbar sind, wenn wir ständig Dinge in Gang setzen, die wir nicht mehr rückgängig machen können – wie sollen wir dann leben?
Arendts Antwort: durch Vergebung und Versprechen. Die Vergebung erlaubt es uns, uns von den Konsequenzen unserer Taten zu befreien. Sie schafft gewissermaßen einen neuen Anfang nach dem Anfang. Sie ist eine zweite Natalität, eine Wiedergeburt.
Und das Versprechen? Es gibt unserem Handeln Kontinuität. Es schafft Verlässlichkeit in einer Welt der Unberechenbarkeit. Diese beiden Fähigkeiten – zu vergeben und zu versprechen – sind für Arendt die „rettenden Kräfte” in der menschlichen Angelegenheiten.
Die dunkle Seite: Totalitarismus
Nun wird deutlich, warum Arendt so fasziniert von Natalität war. Sie hatte den Totalitarismus erlebt – Nationalsozialismus und Stalinismus. Systeme, die genau diese Fähigkeit zum Neuanfang vernichten wollten. Die Menschen auf Funktionen reduzierten, auf Rädchen in einer Maschine, auf vorhersagbare, kontrollierbare Einheiten.
Totalitäre Systeme hassen Natalität. Sie hassen die Unberechenbarkeit des Menschen. Sie wollen nicht, dass irgendjemand etwas Neues anfängt, das nicht im Plan steht. Deshalb brauchen sie Terror – nicht primär zur Bestrafung, sondern zur Prävention. Um zu verhindern, dass überhaupt jemand auf die Idee kommt, einen neuen Anfang zu wagen.
In diesem Kontext wird Natalität zu einem Widerstandsbegriff. Die bloße Tatsache, dass Menschen zu Neuanfängen fähig sind, ist eine ständige Bedrohung für totalitäre Strukturen.
Natalität heute: Eine Provokation?
Jetzt fragst du dich vielleicht: Schön und gut, aber was bedeutet das für uns heute? Leben wir denn in einer totalitären Gesellschaft? Hm …
Nicht im klassischen Sinne. Aber schauen wir genauer hin. Wie oft hören wir „Daran kann man sowieso nichts ändern”? Wie oft fühlen wir uns gefangen in Strukturen – ökonomischen, technologischen, bürokratischen –, die unbeweglich scheinen? Wie oft konsumieren wir passiv statt aktiv zu gestalten?
Arendts Natalität ist hier eine Provokation. Sie sagt: Es kann sich etwas ändern. Du kannst etwas anfangen. Die Frage ist nur: Traust du dich?
Die Banalität des Neuanfangs
Und hier kommt etwas Entscheidendes: Natalität muss nicht heroisch sein. Sie muss nicht spektakulär sein. Manchmal ist der Neuanfang das Gespräch, das du heute mit einem Fremden führst. Manchmal ist es die Entscheidung, einen anderen Weg zur Arbeit zu nehmen. Manchmal ist es das Buch, das du schreibst, das Email, das du nicht schreibst, die Veranstaltung, die du organisieren.
Arendt würde sagen: Im Handeln zeigen wir wer wir sind, nicht nur was wir sind. Im Handeln treten wir als einzigartige Personen in die Welt – nicht als Träger von Eigenschaften oder Funktionen, sondern als wir selbst.
Natalität und Kreativität: Die Kunst des Anfangens
Es gibt einen Bereich, in dem Natalität besonders sichtbar wird: in der Kreativität. Wenn ein Künstler vor einer leeren Leinwand steht, ein Schriftsteller vor dem weißen Blatt, ein Komponist vor der Stille – dann ist das der pure Moment der Natalität. Der Moment, in dem etwas entstehen kann, das es vorher nicht gab.
Aber – und das ist entscheidend – Arendt meint nicht nur die Kreativität von Künstlern. Sie meint die grundlegende kreative Fähigkeit jedes Menschen, Neues hervorzubringen. Wenn Sie ein Gespräch führen, erschaffen Sie etwas Einzigartiges, das in genau dieser Form nie existierte und nie wieder existieren wird. Wenn Sie kochen, experimentieren, ein Problem lösen – überall dort ist Natalität am Werk.
Die moderne Kreativitätsforschung gibt Arendt recht. Kreativität ist keine mysteriöse Gabe weniger Auserwählter, sondern eine fundamentale menschliche Fähigkeit. Sie ist, wie die Natalität, nicht auf bestimmte Menschen beschränkt, sondern Teil dessen, was uns als Menschen ausmacht.
Denke an improvisierte Musik. Jazzmusiker nennen es “spontane Komposition”. In jedem Moment entscheiden sie neu, welcher Ton als nächster kommt. Sie reagieren aufeinander, erschaffen gemeinsam etwas, das niemand geplant hat. Das ist Natalität in Reinform: unvorhersehbar, kreativ, frei.
Oder denken wir an Kinder beim Spielen. Sie erfinden Welten, Regeln, Geschichten – aus dem Nichts. Sie sind der Neuanfang, den Arendt beschreibt. Noch nicht durch Konventionen eingeschränkt, noch nicht von dem Gedanken gelähmt, dass “man das so nicht macht”, zeigen sie uns, was Natalität bedeutet.
Hier liegt auch eine Kritik an unserer Gesellschaft. Wie oft wird Kreativität auf “kreative Berufe” reduziert? Wie oft hören Menschen “Ich bin nicht kreativ”? Arendts Natalität widerspricht dem fundamental. Jeder Mensch, der handelt, der spricht, der in die Welt eintritt, ist kreativ. Die Frage ist nur, ob wir diese Fähigkeit kultivieren oder verkümmern lassen.
Das Geschenk der Geburtlichkeit
Hannah Arendt starb 1975. Aber ihre Idee der Natalität lebt weiter – und sie ist aktueller denn je. In einer Welt, die oft wie ein geschlossenes System erscheint, in dem alles determiniert scheint – Klimakrise, Ungleichheit, technologische Entwicklungen –, sagt Arendt: Nein. Der Mensch ist ein Anfang.
Das ist kein billiger Optimismus. Es ist eine nüchterne Einsicht in die Bedingung des Menschseins. Solange Menschen geboren werden, solange Menschen sprechen und handeln können, ist die Welt nicht abgeschlossen.
Jeder Tag bietet 385.000 neue Chancen. Aber auch: Jeder von uns bietet jeden Tag eine neue Chance. Die Frage ist nur: Nehmen wir sie wahr?
Denn das vielleicht Schönste an Arendts Konzept ist dies: Natalität ist keine flüchtige Eigenschaft, die man hat oder nicht hat. Sie ist eine Möglichkeit, die immer da ist. Bis zu unserem letzten Atemzug können wir etwas Neues anfangen. Bis zur letzten Sekunde sind wir zur Freiheit begabt.
Das ist Arendts Vermächtnis. Und vielleicht ist es genau die Botschaft, die unsere Zeit braucht: Initium ut esset homo creatus est – „Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen”, wie Arendt Augustinus zitiert.
Wir sind der Anfang. Die Frage ist nun: Was fangen wir damit an?
Natalität und Hoffnung
Lass uns zum Schluss kommen. Warum ist Natalität so wichtig? Warum sollte uns dieser sperrige philosophische Begriff interessieren?
Weil er uns etwas schenkt, das zunehmend selten wird: begründete Hoffnung. Nicht die naive Hoffnung, dass „schon alles gut wird”. Sondern die realistische Hoffnung, dass Menschen fähig sind, Neues zu beginnen. Dass die Zukunft offen ist. Dass wir nicht Gefangene der Vergangenheit sind.
In einer Zeit, in der uns Algorithmen vorhersagen wollen, was wir morgen kaufen, wen wir wählen, wen wir lieben – ist Natalität die Erinnerung daran, dass wir unberechenbar bleiben können. Dass wir überraschen können. Dass in jedem von uns die Fähigkeit schlummert, etwas in Gang zu setzen, das die Welt verändert.

