Tabu – die Sprache des Unsagbaren

Wer wirklich hören will, muss dort zuhören, wo andere flüstern – oder ganz schweigen.
Thomas Schmenger

Es gibt Worte, die fehlen. Nicht, weil wir sie nicht kennen, sondern weil sie einen Raum berühren, in dem Sprache selbst unsicher wird. Ein Terrain, auf dem jedes Wort ein Risiko ist. Das Unsagbare ist kein blinder Fleck in unserem Vokabular, sondern ein feines Netz aus Bedeutungen, das nicht reißen darf. Dort beginnt das Tabu – nicht als Verbot, sondern als leise, gesellschaftlich codierte Regieanweisung: Sprich nicht weiter.

Warum wir manchmal schweigen müssen, um gehört zu werden

Was nicht gesagt wird, ist nicht verschwunden. Es steht im Raum, formt die Atmosphäre, lässt Gesprächspartner innehalten. Tabus entstehen aus Angst, aus Scham, aus tief verankerten sozialen Mustern. Sie markieren die empfindlichen Zonen einer Gesellschaft, an denen sich Identität, Erinnerung und Macht berühren. Wer ein Tabu verletzt, stellt nicht nur sich infrage, sondern auch die Ordnung, in der gesprochen wird.

Das zeigt sich im Privaten ebenso wie im Politischen. In vielen Familien schweigt man über das, was weh tut: über Krankheit, über Gewalt, über Schuld. Das Kind, das eine zu direkte Frage stellt, erfährt kein Wissen, sondern ein Abwenden. Das Schweigen ist kein Schweigen aus Unkenntnis. Es ist ein performativer Akt, ein Signal, dass hier ein stiller Pakt greift. Auch in der Öffentlichkeit sind es oft die Tabus, die bestimmen, was gesagt werden darf, ohne aus dem Diskurs zu fallen. Die Grenzen des Sagbaren verlaufen dabei nicht entlang juristischer Linien, sondern entlang kultureller Empfindlichkeiten.

Michel Foucault hat gezeigt, wie das Ungesagte genauso wirksam ist wie das Ausgesprochene. Die Macht liegt nicht nur in den Aussagen, sondern im Arrangement dessen, was sagbar ist. Sprache ist niemals neutral. Sie ist eingebettet in Strukturen, die definieren, was als wahr, was als anständig, was als gefährlich gilt. Das Tabu operiert im Hintergrund, verschiebt Bedeutungen, ohne selbst sichtbar zu werden.

Und doch ist es zu einfach, Tabus nur als Einschränkung zu begreifen. Sie sind auch Schutzräume. Dort, wo Sprache zur Waffe werden könnte, entsteht durch das Tabu eine Grenze, die das Gegenüber achtet. Nicht jedes Schweigen ist ein Versagen. Es kann auch eine Form von Rücksicht sein, ein Zeichen von Bewusstheit für die Verletzlichkeit des Anderen. Das Problem beginnt, wenn das Schweigen zur Zensur wird, wenn das Tabu nicht schützt, sondern unterdrückt.

Denn Sprache beginnt nicht dort, wo alles gesagt werden darf. Sondern dort, wo etwas gesagt werden kann – ohne zu verletzen, ohne zu verraten. Manchmal bedeutet das, zu sprechen. Manchmal bedeutet es, zu schweigen. Und manchmal bedeutet es, genau zu wissen, wann beides nicht ausreicht.

Gerade die Künste haben ein Gespür für diesen Zwischenraum entwickelt. Sie sprechen, wo direkte Rede verstummen muss. Sie umgehen, um genauer zu treffen. In der Metapher, in der Ironie, in der Andeutung entsteht eine Sprache, die dem Unsagbaren ein Gewand verleiht. Nicht durch Klarheit, sondern durch Resonanz. Kafka nannte das die Aufgabe der Literatur: das Unsägliche zu zeigen.

Vielleicht liegt genau hier ein Schlüssel für unseren Umgang mit Tabus. Nicht in der Lautstärke, nicht in der Provokation. Sondern im aufmerksamen Hören. Im Mut zur feinen Sprache. In der Bereitschaft, Räume offen zu lassen, ohne sie zu meiden. Das Unsagbare ist kein Mangel. Es ist eine Einladung zur Präzision. Zur Verantwortung. Und zur Gestaltung.