… auch die Liebe liebt das Licht
Als Isidor Markus Emanuel am 1. Februar 1953 im Dom zu Speyer geweiht wurde, hatte die Pfalz das Leid des Krieges kaum abgestreift. In Predigten sprach der neue Oberhirte vom „Wiederaufbau der Herzen“. Hinter dem liturgischen Glanz aber wuchs in seinen fünfzehn Amtsjahren ein Schattenreich, das erst heute wirklich sichtbar wird. Die Mannheimer Teilstudie, vor wenigen Tagen vorgestellt, datiert annähernd die Hälfte aller bislang belegten Übergriffe auf Kinder und Jugendliche genau in jene Jahre zwischen 1953 und 1968. Unter den 150 mutmaßlichen Tätern befanden sich 109 Geistliche, überwiegend Jahrgänge vor 1920, vielfach vom Krieg gezeichnet und im autoritären Ton ihrer Ausbildung verhärtet. Professorin Sylvia Schraut, Leiterin des Forschungsteams, spricht von einer „amtskirchlichen Kommandostruktur, in der Alarmrufe ungehört verhallten“.
Zum Wohl der Kirche
Emanuels Kanzlei arbeitete mit der Präzision eines Registraturuhrwerks. Wenn ein Kaplan aufflog, wanderte eine dünne Mappe über den Schreibtisch des Bischofs; wenige Tage später trudelte in der Zielpfarrei oder sogar in einer südamerikanischen Missionsstation ein Versetzungsschreiben ein, unterschrieben mit dem Kürzel SE – Sua Eccellentia. Im Kirchenlatein lautete die Formel ad bonum ecclesiae, zum Wohl der Kirche. Für die Betroffenen aber bedeutete sie, dass ein Priester, dem schwerer sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde, ohne staatliche Anzeige weiterarbeiten durfte – und häufig weiter missbrauchte. Die Ordensautonomie bot zusätzlichen Schutz. Römische Privilegien garantierten den Schwesternhäusern alleinige Verantwortung über ihre Heime; weltliche Aufsichtsbehörden hielten Abstand. So entstanden rechtsfreie Räume mitten in der Stadt, in denen Ordensfrauen, Hauskapläne und extern eingeladene Honoratioren über Jahre hinweg unkontrolliert agieren konnten. Die Mannheimer Forscher entdeckten in den Personalbeständen ganze Aktenordner, in denen Seiten herausgerissen, Randnotizen überklebt und Dienstjahre nachträglich umdatiert waren – „eine Aktenvernichtung in Raten“, wie Schraut es nennt.
Das süße Bordell
Ben König, sechzig Jahre alt, zeigt bei Interviews ein scheckiges Passfoto eines blassen Grundschülers. „Die Nonnen waren Zuhälterinnen“, sagt er, „sie gaben uns weiter wie Leihbücher – erst an den Kaplan, dann an den Politiker.“ Die Erinnerung an die sogenannten Wohltäterabende trägt noch den Geruch von Bohnerwachs und Herrenparfum. „Freitag nach der Andacht“, erzählt eine anonym geführte Zeugin in der Studienanlage, „zogen sie uns Festkleider an, stellten uns in einen Saal hinter der Kapelle. Dort saßen Priester, Damen aus dem Orden und zwei Herren mit Siegelringen. Man nannte es ‚Abend der Wohltäter‘. Danach bekamen wir Schokolade und Schweigepflicht.“
Ein anderer Überlebender stand 2020 im Zeugenstand des Sozialgerichts Darmstadt und fasste sein Leben in einen Satz: „Zwölf Jahre lang, rund tausendmal.“ Das Gericht glaubte ihm und sprach Entschädigung zu. Schwester Barbara Geißinger, Provinzoberin der Niederbronner Schwestern, erklärte gegenüber Vatican News, man stelle die Glaubwürdigkeit des Mannes nicht in Frage; man könne nur Teile seiner Angaben – darunter Berichte über Sexpartys mit Politikern – nicht nachträglich belegen, weil die Ordensakten jener Jahre „sich nicht mehr bei uns befinden“.
Der breite Schatten der Tabus
Bis weit in die achtziger Jahre hinein lautete die Standardformel in den rheinland-pfälzischen Behördenakten: „Kirchliche Angelegenheit – keine Landeszuständigkeit.“ Jugendämter, die Hinweise auf Gewalt erhielten, leiteten sie an das Ordinariat weiter und schlossen die Vorgänge. Polizeidienststellen gaben Ermittlungen ab, sobald ein Bischöfliches Offizialat eine interne Klärung ankündigte. Erst nach dem Jahr 2000, als eine wachsende Zahl von Betroffenen vor Gericht zog, begannen regionale Medien hartnäckiger zu fragen. Ministerpräsidentin Malu Dreyer nannte 2025 die Versäumnisse „staatliches Mitverschulden durch jahrzehntelange Ehrfurcht vor klerikaler Immunität“ und stärkte die Unabhängige Landeskommission, die nun Akteneinsicht ohne kirchliches Vetorecht erhält.
Das laute Schweigen
Während der Amtszeit Emanuels fanden sich in der regionalen Tagespresse vor allem Berichte über Kirchweihen und Wallfahrten. Kritik an Klerikern galt als Sakrileg, Redaktionen fürchteten Leserproteste. Das Schweigen brach erst, als 2020 Annette Langer im Spiegel unter der Überschrift „Die Nonnen waren Zuhälterinnen“ das verloren geglaubte Sujet der Engelsgasse publik machte. Die Südwestrundfunk-Redaktion folgte mit der Langzeitrecherche „System der Vertuschung“ und zeigte erstmals die Versetzungsrouten von Priestern auf einer interaktiven Karte: Speyer – Landau – Curitiba. Heute arbeiten Datenjournalisten mit denselben Quellen, die den Forschern dienten, und legen Verkettungen offen, in denen Namen, Orte, Diözesanerlasse und Justizakten sich gegenseitig kommentieren.
Der Auftrag
Das Bistum Speyer hat bislang 3,4 Millionen Euro an 94 Betroffene gezahlt. Für viele ist das eine symbolische Geste, die den Verlust von Kindheit und Lebensmut nicht aufwiegt. Die Mannheimer Datenbank umfasst inzwischen dreißigtausend digitalisierte Schriftstücke; sie ist kein Archiv der Vergangenheit, sondern ein Warnsystem für die Zukunft. Denn überall dort, wo Ordensautonomie, klerikale Amtsgewalt und politisches Wegsehen zusammentreffen, kann Schweigen erneut zur Waffe werden.
Bernd Held, Sprecher des Betroffenenbeirats, fasst die Erwartung in einem Satz zusammen: „Wir wollen nicht Mitleid, wir wollen Wahrheit – und dass endlich nichts mehr unter den Teppich gekehrt wird, weder gestern noch morgen.“
Quellen
Tagesschau, „Studie spricht von System der Vertuschung“, 8. Mai 2025
Der Spiegel, Annette Langer: „Die Nonnen waren Zuhälterinnen“, 16. Dezember 2020
Vatican News, „Niederbronner Schwestern äußern sich zu Vorwürfen“, 11. Dezember 2020
FAZ, „Mehr Täter unter Ordenspriestern im Bistum Speyer“, 8. Mai 2025
PDF-Studie „Sexueller Missbrauch im Bistum Speyer seit 1946 – Teilstudie 1“, Universität Mannheim 2025
DER SPIEGEL, „Tausendfacher Missbrauch in Kinderheim – ›Die Nonnen waren Zuhälterinnen‹“, 16.12.2020
katholisch.de, „Nonnen sollen Missbrauch durch Priester ermöglicht haben“, 11.12.2020
SWR, Dossier „System der Vertuschung“, 08.05.2025
tagesschau.de, „Studie spricht von System der Vertuschung“, 08.05.2025
Mannheimer Morgen, „Heiligabend: Missbrauchsopfer klebt Plakat an Speyerer Rathaus“, 25.12.2020
Bistum Speyer, Mitteilung zu Vorwürfen gegen Niederbronner Schwestern, 2021
MRN-News, Landesregierung RLP und Aufarbeitungskommission, 2025