Die Autor:innen des Anti-Autocracy Handbook: A Scholars’ Guide to Navigating Democratic Backsliding sind ein internationales Team von Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen.
Diese Gruppe verbindet Expertise aus den Bereichen Psychologie, Politikwissenschaft, Medienforschung, Soziologie, Statistik und Public Policy. Das Handbuch wurde gemeinschaftlich erstellt, um Wissenschaftler:innen, Lehrende und Studierende auf demokratiefeindliche Entwicklungen aufmerksam zu machen – und praktische sowie theoretische Werkzeuge für den Umgang mit diesen Herausforderungen bereitzustellen.
Übersetzung // Auszug:
Kapitel 1: Warum dieses Handbuch?
Demokratie ist kein Geschenk. Sie ist ein Versprechen – und eine Aufgabe. In vielen Ländern, auch in gefestigten Demokratien, beobachten wir einen beunruhigenden Trend: die schleichende Aushöhlung demokratischer Institutionen, Normen und Praktiken. Dieser Prozess wird oft nicht durch Putsche oder Revolutionen eingeleitet, sondern durch legislative Feinheiten, diskursive Verschiebungen, gezielte Polarisierung und subtile Einschüchterung.
Dieses Handbuch will Orientierung bieten: für Wissenschaftler:innen, für Studierende, für alle, die sich der Demokratie verpflichtet fühlen. Es will erklären, aufklären, verbinden – und zeigen, wie wir uns wehren können, bevor es zu spät ist.
Kapitel 2: Was ist demokratischer Rückschritt?
Demokratischer Rückschritt – im Englischen „democratic backsliding“ – bezeichnet den systematischen Abbau demokratischer Strukturen, ohne dass formell die Demokratie abgeschafft wird.
Statt offener Gewalt erleben wir:
die Entmachtung unabhängiger Institutionen,
die Einschränkung von Meinungsfreiheit,
die Instrumentalisierung von Polizei und Justiz,
die Delegitimierung von Wissenschaft,
die Ausgrenzung marginalisierter Gruppen.
Rückschritt bedeutet nicht immer Diktatur – aber immer weniger Demokratie. Das Gefährliche: Er ist oft legal. Gesetze werden angepasst, Narrative verschoben, Gegner delegitimiert – und das alles mit scheinbar demokratischen Mitteln.
Kapitel 3: Wie Autoritarismus sich einschleicht
Moderne Autokratien beginnen selten mit Panzern auf den Straßen. Sie beginnen mit Worten.
Politiker:innen stellen „kritische Fragen“ zur Legitimität von Gerichten. Journalist:innen werden „hinterfragt“. Wissenschaftler:innen werden „in die Verantwortung genommen“.
Diese semantischen Vorstöße sind strategisch. Sie schaffen Raum für neue Normen.
Es folgen: Gesetzesänderungen, Haushaltskürzungen, personelle Umbesetzungen. Und dann: Einschüchterung, Überwachung, Selbstzensur.
Der Weg in die Autokratie ist oft ein Paradox: Je legaler er wirkt, desto gefährlicher ist er.
Kapitel 4: Was wir von anderen Ländern lernen können
Demokratischer Rückschritt ist kein neues Phänomen. Länder wie Ungarn, Polen, die Türkei oder Brasilien haben bereits Erfahrungen gemacht, die für andere Demokratien lehrreich sind.
Sie zeigen:
Wahlgewinne allein legitimieren keine Demontage demokratischer Institutionen.
Auch Universitäten, Gerichte, Medien können systematisch ihrer Unabhängigkeit beraubt werden.
Wie wichtig internationale Netzwerke, zivilgesellschaftlicher Widerstand und wissenschaftliche Solidarität sind.
Der Blick nach außen hilft, die Anzeichen im eigenen Land klarer zu sehen. Lernen bedeutet: nicht abwarten, sondern handeln.
Kapitel 5: Wissenschaft unter Druck
Wissenschaft lebt von Freiheit – und gerät deshalb ins Visier autoritärer Akteure.
Typische Strategien gegen Wissenschaftler:innen sind:
Diskreditierung durch Diffamierung.
Budgetkürzungen und Strukturreformen.
Kampagnen in sozialen Medien.
Verknüpfung von Forschung mit Ideologie.
Gerade in sozialen und politisch sensiblen Bereichen wie Gender, Klima oder Migration wird die Wissenschaft zur Projektionsfläche.
Widerstand bedeutet hier: Transparenz, kollektive Reaktion, internationale Unterstützung – und klare Haltung der Institutionen.
Kapitel 6: Die Normalisierung des Ausnahmezustands
Autoritäre Tendenzen greifen oft zu einem bekannten Mittel: dem Ausnahmezustand.
Ob Pandemie, Migration oder Sicherheit – Ausnahmelagen werden politisch instrumentalisiert, um:
Gesetze außer Kraft zu setzen.
Notverordnungen zu erlassen.
Kontrolle zu zentralisieren.
Was als kurzfristige Maßnahme beginnt, wird häufig zum Dauerzustand.
Der Ausnahmezustand wird zur neuen Norm.
Widerstand heißt hier: kritisches Begleiten, Transparenz fordern, demokratische Rückführung sichern.
Kapitel 7: Die Rolle der Sprache
Sprache schafft Realität. Autoritäre Akteure wissen das – und nutzen Sprache gezielt, um zu manipulieren.
Typisch sind:
Euphemismen („Anpassung“, „Modernisierung“)
Diskursverschiebungen („Wissenschaftsgläubigkeit“, „Lügenpresse“)
Delegitimierungen („Feinde“, „Eliten“, „Volksverräter“)
Wer Begriffe bestimmt, strukturiert das Denken.
Deshalb ist es entscheidend, auf Sprache zu achten – und Gegenbegriffe zu setzen, die Realität beschreiben statt verschleiern.
Kapitel 8: Warum Fakten allein nicht reichen
In autoritären Kontexten verlieren Fakten ihre Macht.
Es geht nicht mehr nur um Wahrheit – sondern um Vertrauen, Narrative, Identität.
Fakten werden als Meinung dargestellt.
Meinungen als Fakten behauptet.
Gefühl schlägt Evidenz.
Deshalb ist Wissenschaftskommunikation gefragt, die mehr leistet als Zahlen zu liefern:
Sie muss Geschichten erzählen, Menschen einbinden, Resonanz erzeugen – ohne die Wahrheit zu relativieren.
Kapitel 9: Netzwerke als Schutzräume
Einzelne sind angreifbar – Netzwerke sind widerstandsfähiger.
Deshalb gilt: Solidarität ist kein Luxus, sondern Schutzmechanismus.
Wissenschaftler:innen sollten sich verbinden – lokal, national, international.
Solche Netzwerke bieten:
Austausch und Rückhalt.
Sichtbarkeit und Öffentlichkeit.
Schnelle Mobilisierung bei Angriffen.
Sie stärken auch das Gefühl: Ich bin nicht allein.
Widerstand wird möglich, wenn er geteilt wird.
Kapitel 10: Organisationen unter Druck – Wie Systeme widerstandsfähig bleiben
Wenn autoritäre Dynamiken einsetzen, geraten ganze Organisationen ins Wanken:
Wissenschaftseinrichtungen, Universitäten, NGOs, Medienhäuser.
Die Frage ist nicht nur: Wie schützen wir Individuen?
Sondern auch: Wie bleibt das System handlungsfähig?
Es braucht:
klare Rollen
Kommunikationsstrategien
Verantwortungsbereiche
Notfallpläne
Resiliente Organisationen zeichnen sich nicht durch Starre aus – sondern durch Anpassungsfähigkeit mit Haltung.
Kapitel 11: Die Rolle der Universitäten
Universitäten sind nicht nur Orte der Lehre und Forschung.
Sie sind auch Räume der Reflexion, der Kritik, des Austauschs – und deshalb politisch bedeutsam.
In autoritären Kontexten werden sie:
unter finanziellen Druck gesetzt,
politisch instrumentalisiert,
von innen gespalten.
Was hilft?
Demokratische Selbstverwaltung stärken.
Fachübergreifende Allianzen bilden.
Sich nicht als neutrale Insel verstehen – sondern als Teil der Gesellschaft.
Kapitel 12: Medien zwischen Aufklärung und Angriff
Freie Medien gelten als „vierte Gewalt“ – und geraten daher ins Visier antidemokratischer Kräfte.
Typische Muster:
Verunglimpfung als „Lügenpresse“.
Desinformationskampagnen in sozialen Medien.
Ökonomische Austrocknung oder Aufkauf.
Aber auch:
Einbindung über privilegierten Zugang oder Abhängigkeit.
Medien brauchen klare Standards, unabhängige Finanzierung – und kritische Selbstreflexion.
Denn auch Aufklärung kann vereinnahmt werden.
Kapitel 13: Die stille Macht der Verwaltung
Während sich öffentliche Debatten auf Parlamente und Regierungen konzentrieren, wirken autoritäre Umbrüche oft durch die Verwaltung:
Verzögerung von Anträgen.
Abbau von Ressourcen.
Umbesetzungen auf Schlüsselpositionen.
Der Rückbau demokratischer Kontrolle geschieht nicht selten in Ämtern, Behörden, Schulleitungen.
Widerstand hier bedeutet:
Verantwortung auf der mittleren Ebene wahrnehmen.
Transparenz kultivieren.
Interne Bündnisse stärken.
Kapitel 14: Die Wissenschaft der Demokratie
Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie muss verstanden, vermittelt, reflektiert werden.
Deshalb braucht es demokratiebezogene Forschung – nicht als Nische, sondern als Querschnittsaufgabe.
Wie funktioniert Beteiligung?
Wie entstehen Polarisierungen?
Wie wirken Regeln auf Vertrauen?
Demokratieforschung darf nicht reaktiv sein – sie muss vorausschauend arbeiten.
Denn der Schutz der Demokratie beginnt mit ihrer Wissensgrundlage.
Kapitel 15: Lehre als demokratischer Raum
Jede Lehrveranstaltung ist ein Möglichkeitsraum: für Offenheit, für Kritik, für Auseinandersetzung.
Gerade hier wird oft zuerst angesetzt:
Bewertungen unter politischen Vorzeichen.
Anonymisierte Beschwerden mit ideologischem Hintergrund.
Druck auf Inhalte, Begriffe, Perspektiven.
Lehre ist keine private Meinung – sie ist wissenschaftlich begründet, dialogisch, überprüfbar.
Sie braucht Rückhalt von Hochschulleitungen – und klare Ansagen bei Angriffen.
Denn wer die Lehre einschränkt, beschneidet die Zukunft.
Kapitel 16: Verbündete finden – disziplinübergreifend denken
Autoritäre Tendenzen kennen keine Fachgrenzen – also darf auch die Antwort nicht disziplinär beschränkt bleiben.
Es braucht Allianzen zwischen:
Natur- und Sozialwissenschaften,
Geistes- und Technikwissenschaften,
Kunst, Recht, Bildung, Medizin, Klima.
Denn wo demokratische Prozesse gefährdet sind, ist jede Erkenntnisproduktion betroffen.
Interdisziplinäre Netzwerke schaffen Weitsicht – und verhindern, dass einzelne Bereiche isoliert angreifbar werden.
Kapitel 17: Die Kunst des Widerspruchs
Widerspruch ist unbequem – aber notwendig.
Gerade in akademischen Kontexten braucht es Räume, in denen Gegenrede nicht als Angriff, sondern als Pflicht verstanden wird.
Wer widerspricht, schützt.
Wer Fragen stellt, wehrt sich.
Doch Widerspruch muss auch gelernt werden: argumentativ, fair, konsequent.
Und: Er braucht Schutz.
Denn Autoritäre setzen auf Einschüchterung – Schweigen hilft ihnen mehr als Applaus.
Kapitel 18: Selbstfürsorge ist kein Rückzug
Wer sich gegen antidemokratische Tendenzen einsetzt, steht unter Druck.
Burnout, Ohnmacht, Frustration sind reale Gefahren.
Deshalb ist Selbstfürsorge keine Schwäche, sondern politische Praxis.
Sie bedeutet:
Grenzen setzen.
Pausen einlegen.
Sich vernetzen.
Denn wer sich selbst verliert, kann andere nicht schützen.
Resilenz beginnt im Innern – und strahlt nach außen.
Kapitel 19: Internationale Perspektiven nutzen
Demokratie ist kein nationales Projekt.
Angriffe auf ihre Strukturen folgen oft globalen Mustern – und werden auch international orchestriert.
Darum braucht es:
Vergleichende Forschung.
Regionenübergreifende Solidarität.
Globale Allianzen von Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Medien.
Was anderswo beginnt, kann hier enden.
Und was hier verteidigt wird, schützt auch andere.
Internationalisierung heißt nicht nur Austausch – es heißt: gemeinsame Verantwortung.
Kapitel 20: Digitalisierung – Risiko und Ressource
Digitale Technologien sind doppelt ambivalent:
Sie sind Werkzeuge für demokratische Teilhabe – und für Überwachung, Manipulation, Spaltung.
Social Media ermöglichen Vernetzung – und Polarisierung.
Algorithmen verbreiten Wissen – und Falschinformationen.
Wer Demokratie schützt, muss digitale Räume mitdenken.
Das heißt:
Plattformen regulieren.
digitale Bildung fördern.
transparente Technik gestalten.
Denn Demokratie endet nicht am Bildschirmrand – sie beginnt dort oft.
Kapitel 21: Die Bedeutung der Erinnerung
Demokratie braucht Geschichte – nicht als Mythos, sondern als Mahnung.
Autoritäre Regime versuchen oft, Vergangenheit umzuschreiben:
Heldenerzählungen statt Fakten.
Nationale Opfermythen statt Verantwortung.
Geschichtspolitik statt Geschichtswissenschaft.
Widerstand heißt hier: Erinnerung offenhalten.
Gedenkkultur stärken.
Geschichte lehren, nicht verherrlichen.
Denn wer die Vergangenheit verzerrt, kontrolliert die Zukunft.
Kapitel 22: Humor als Waffe – und als Schutz
Wo Ernst zur Pflicht wird, wird Lachen zum Widerstand.
Humor kann:
entlarven,
entwaffnen,
erleichtern.
Autoritäre Systeme hassen Ironie – weil sie Kontrolle unterläuft.
Aber: Humor darf nicht zynisch werden.
Er braucht Kontext, Haltung, Ziel.
Und: Er braucht Schutzräume, in denen Lachen kein Risiko ist.
Kapitel 23: Zwischen Anpassung und Aufstand
Nicht jede:r kann sich laut wehren.
Doch jede Handlung zählt.
Es gibt viele Formen des Widerstands:
Verweigerung.
Hinterfragen.
Verlangsamen.
Bezeugen.
Publikmachen.
Manchmal ist schon ein „Nein“ revolutionär.
Widerstand muss nicht heroisch sein – nur beharrlich.
Kapitel 24: Was tun, wenn es ernst wird?
Manchmal reicht Haltung nicht mehr – dann braucht es Handlung.
In akuten Situationen gilt:
Ruhe bewahren.
Rechte kennen.
Öffentlichkeit suchen.
Verbündete mobilisieren.
Keine Einzelaktion – sondern gemeinsames Vorgehen.
Denn demokratischer Widerstand ist nicht privat.
Er lebt vom Wir.
Und vom Wissen: Wir haben Werkzeuge.
Wir müssen sie nur nutzen.
Kapitel 25: Zukunft verteidigen – Demokratie als gemeinsame Vorstellung
Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess.
Kein Besitz, sondern ein Versprechen.
In Zeiten autoritärer Versuchung reicht es nicht, Institutionen zu schützen –
wir müssen auch unsere Vorstellungskraft schützen.
Denn der Angriff auf die Demokratie ist immer auch ein Angriff auf die Idee,
dass Zukunft gemeinsam, offen, gerecht gestaltbar ist.
Hoffnung heißt nicht: „Es wird schon gut.“
Hoffnung heißt: „Es ist noch nicht entschieden.“
Demokratie ist das Gegenteil von Alternativlosigkeit.
Sie ist der Raum, in dem wir streiten dürfen –
damit niemand schweigen muss.
Herausgeber:innen / Hauptautor:innen:
- Stephan Lewandowsky – University of Bristol & University of Potsdam
- Vera Kempe – Abertay University, Dundee
- Konstantinos Armaos – University of Bonn
- Ulrike Hahn – Birkbeck, University of London
- Christoph M. Abels – University of Potsdam
- Susilo Wibisono – University of Queensland
- Winnifred Louis – University of Queensland
- Sunita Sah – Cornell University
- Christina Pagel – University College London
- Nina Jankowicz – American Sunlight Project
- Renee DiResta – Georgetown University
Quelle: